Beschreibung:

86 S., zahlr. Abb. Fadengehefteter Originalpappband.

Bemerkung:

Sehr gutes Ex. - Am Haiku interessiert mich nicht, Symbole des Zen und der japanischen Kultur zu importieren. Und die Regeln sind zwar ein wichtiger Rahmen, vergleichbar dem vorgegebenen, vorgewählten Papierformat für eine Zeichnung, aber, beispielsweise: wenn Sil-bengefüge und Rhythmus zusammenstimmen, freue ich mich, wenn nicht, hat der Rhythmus das letzte Wort. Am Haiku interessiert mich besonders: zwei Bilder treten in Spannung, die in einem dritten aufgehoben wird (aber nicht aufgelöst); mitunter, besonders schwierig, sind es auch bildlose Bewegungen und Klänge. Der Vorgang ist dem der Elektrizität exakt analog, zwischen den Polen Plus und Minus entsteht ein Stromstoß dann, wenn jemand den potentiellen Kontakt vollzieht. Dieser Jemand ist der aktive Leser, aktiv wie der Hausmusiker, der Partituren nicht nur liest, sondern probt. Nicht Impression noch Aha-Effekt, sondern Nachwirkung ist das erste Kriterium für ein Haiku. Formal ein Zellkern, wo jedes "der" oder "und" noch zählt in geschwätziger Zeit. Thematisch die Möglichkeit, Natur sich zu nähern als auch Bedeutungsmomente aus dem Alltagszu- und -abfall herauszuholen. Und drittens: das Haiku entstammt einer Zeichen- und Bilderschrift und war oft kalligraphisches Signal auf Rollbildern. Wenn heute bildende Kunst und Musik bei den ohnehin wenigen Interessenten mehr Aufmerksamkeit beanspruchen können als Lyrik, so liegt das zu einem nicht unwesentlichen Teil an der Unsinnlichkeit der "Bleiwüste" (wie die Drucker das Schrift,,bild" nennen), kaum unterscheidbar von "Schriftverkehr" und "Druckerzeugnissen". Die Haiku wurden von 1975 bis 1980 in einen langen, schmalen Blindband eingetragen. Warum nicht einfach eine Auswahl daraus treffen und in Druck geben, statt das Arbeitsbuch mit Ortsangaben, Daten, allen Korrekturen 1:1 zu reproduzieren? Weil nicht Haikuanthologie, sondern Transkription das Thema ist, TransSkript. Erscheinungen transkribieren, mit eigener Hand, in die Muttersprache - einige wenige, weitaus die meisten Erscheinungen bleiben unformuliert; Manuskripte ins Reine übertragen = in Norm, in Lettern überSetzen - die meisten bleiben ungedruckt; andere Schriftträger und vorgefundene Schriftstücke über-Schreiben - einige wenige, die meisten bleiben ungenutzt, die Welt ist voll, wir können sie höchstens (noch) ändern: ist es nicht naiv, immer wieder ein weißes leeres Blatt zu nehmen, als warte die Welt herrlich wie am ersten Tage auf unsere Äußerungen? Und schließlich die Arbeit dem Leser überschreiben auf sein Konto. Denn die in Satz gegebenen Formulierungen sind nun nicht unbedingt die stärksten Momente, sie sind Lesebeispiele, Lesehilfen, immer untergeordnet dem sichtbaren rhythmischen Ablauf des Buches; es ist aus der Mitte konzipiert, läuft spiegelbildlich nach beiden Seiten und klingt in den Außenseiten in andere Möglichkeiten von Überschreibung aus. Wer sich einlesen will, wird aus den "unveröffentlichten", Notiz bleibenden viele herauslesen können und vielleicht eine ganz andere Auswahl, was übertragen werden soll, treffen (mir jedenfalls ist es verdammt schwer gefallen, aus 5-7 Haiku auf einer Seite nur eines "ans Licht" ziehen zu dürfen, weil die Konzeption es so verlangte). Herauslesen: jeder, der einen intellektuellen Beruf hat, muß zuviel lesen, ich auch. Dennoch halte ich die Handhabe von Büchern in mittelalterlichen Klöstern für ideal, wo Lesen als Erraten und Enträtseln verstanden und geübt wurde, langsam und bedächtig. Bedächtig heißt ursprünglich: zum Bedenken bereit, und lesen war ursprünglich auslesen (lesbar und leserlich tauchen erst im 17. Jhdt. auf). Und es ist ein Klausurbuch. Geht man es von vorne an, nimmt die Entscheidungsfreiheit, dieser LesArt zu folgen oder nicht, mit den Seiten zu. In der Mitte völlig alleingelassen, erfährt der Leser dann wieder langsam ansteigende Begleitung. Schlüssel, Kreuze, Taktmaß der Partitur sind vorgedruckt - wer läßt seine Phantasie spielen, überträgt die Bilder auf seine Erfahrungen und vice versa, überschreibt mit seinen Bildern diese? (S. 84)